Die Montagsfrage #69 — Kann ein Autor über etwas außerhalb der eigenen Erfahrung schreiben? (Und muss er es sogar?)

Nachdem die letzte Woche eine Montagsfrage Kategorie light über die Handy- und Computerbildschirme aller Teilnehmer geflattert ist, wird es heute mal wieder ein bisschen philosophischer. (Gatcha! Ganz ohne tiefgründige Fragen muss, soll und kann es einfach nicht. Es wäre allerdings auch langweilig, wäre alles auf Anhieb einfach zu beantworten.) (Dieser Beitrag hat noch nicht ganz angefangen und ich beginne schon wieder mit dem Fingernägel-Kauen, was ich grundsätzlich tue, wenn ich über etwas nachdenken muss. Aus reiner Selbsterhaltung können wir deshalb auch nicht jeden Montag mit einer philosophischen Grundfrage des Leseverhaltens starten.) (Die Balance macht’s, schätze ich.)

Bevor wir uns allerdings an diese Montagsfrage stürzen, ein kurzer Wochenrückblick: Das Buch rückt voran, ich habe einen zweiten (kleinen) Nebenjob gefunden, meine Arbeit macht mir Spaß, den Katzen geht es gut und ich war zwei Tage vollkommen mit Bauchkrämpfen ausgeknockt. Man kann nicht alles haben. Aber wie sagt man im Wetterbericht und beim Aktienhandel? Der Trend geht nach oben. (Desto länger ich darüber nachdenke, desto unsicherer bin ich mir, was man genau beim Wetterbericht sagt, weil ich viel zu selten den Wetterbericht im Fernsehen sehe. Ein Hoch kommt? Es klart sich auf? Ihr wisst was ich meine.)

Und – zu allem Überfluss – bereite ich diese Woche die Montagsfrage sogar sage und schreibe nicht auf den letzten Drücker vor, sondern bereits mit einem ordentlichen Zeitabstand zu ihrem geplanten Veröffentlichungstermin. Meine Damen und Herren, es geschehen noch Zeichen und Wunder.

Kann ein Autor über etwas außerhalb der eigenen Erfahrung schreiben? (Und muss er es sogar?

Ich bin ein großer Fan von Zitaten und Sinnsprüchen, weshalb ich meine Antwort auf diese Montagsfrage mit genau dem beginnen will. Der englische Kriminalautor G.K. Chesterton sagte einmal: ”Ein guter Roman verrät uns die Wahrheit über den Helden, ein schlechter über den Autor.” — Ich will ganz ehrlich sein. Ich kenne G.K. Chesterton nicht. Weder persönlich (was an und für sich auch sehr schwierig wäre, da er bereits 1936 verstorben ist) (Adjektiv schwierig, Verschwörungstheorie: Bin ich vielleicht insgeheim hauptberuflich Zeitreisende? Das würde einiges erklären.) (Eigentlich würde es gar nichts erklären. Die Welt ist ein komplizierter Ort.), noch als Autor. Es ist mir deshalb beim besten Willen nicht möglich, zu beurteilen, ob er sich an seine eigene Maxime gehalten hat. Dieses Zitat hat allerdings, weshalb ich diese Montagsfragen-Antwort auch mit ihm beginne, schon viele Jahre einen besonderen Platz in meinem Würde-Gern-Schriftstellerin-Sein-So-Eines-Tages-Vielleicht-Hinterstübchen. Es ist ein gutes Zitat, an das man sich beim Schreiben von Zeit zu Zeit erinnern sollte.

Für mich macht die Magie der Bücher aus, dass sie, unter richtigen Umständen und guten Plantenkonstellationen, größer sein können als ihre Verfasser. Und idealerweise geht es beim Schreiben doch darum, Geschichten zu erzählen, die mehr Bedeutung und Bewegung haben und in jedem Fall besser ausformuliert sind als das eigene Leben. Eine ganz eigene Magie. Aber da spricht der ambitionierte Schreiberling.

Was genau hat das nun mit der Frage zu tun?, fragt ihr euch vielleicht. Nun, im Prinzip alles. Ein gutes Buch, wenn man G.K. Chesterton Glauben schenken kann, sollte nichts über den Autor verraten. Die Geschichte, die man erzählt, muss getrennt sein von der Geschichte seines Verfassers. Aber, das frage ich jetzt, geht das denn überhaupt? Kann man wirklich Geschichten erzählen, die man — zumindest im weitesten Sinne — nicht selbst erlebt hat? Und wenn man das tut: Kann so etwas jemals wirklich Tiefe erreichen? Kann man über Liebe schreiben, wenn man nie verliebt war? Oder über Verlust, bevor man je jemanden wirklich verloren hat? Kann ein Autor jemals wirklich über ein Problem schreiben, das er nicht selbst erlebt hat, ohne abgestumpft Klischees zu bedienen, die er in Internetforen aufgegabelt hat? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten.

Mein Herz sagt zögerlich ja. Ich glaube, wenn man Themen intensiv genug recherchiert hat und wirklich viel Energie darauf verwendet, sich auf sie einzulassen, dann ja, kann ein Autor realistisch über eine Situation schreiben, die er so nie erlebt hat. (Vorausgesetzt wir haben es mit einem guten Autor zu tun, versteht sich.) Aber es ist eine schmale Gratwanderung und ein schwieriges Unterfangen, sich so weit in ein Gedankenexperiment zu lehnen. Weshalb ich persönlich glaube, dass die meisten Bücher zu einem gewissen Teil durchaus auch etwas über ihre Autoren verraten und nicht nur über ihre Helden.

Ich glaube, es ist selten, dass ein Buch wirklich eine Geschichte erzählt, die frei ist von Themen, die den Verfasser nicht in einer abgewandelten Form irgendwann einmal umgetrieben haben. Damit meine ich natürlich nicht, dass jeder Abenteuerroman von Leuten verfasst wurde, die sich im Urlaub mal so richtig verirrt haben und einen Hang zur haltlosen Dramatik besitzen. Ich meine damit, dass in jedem Roman hinter der augenscheinlichen Geschichte auch ein größeres unterschwelliges Thema sitzt und dass das, in einer abgeschwächten, abgewandelten und veränderten Form durchaus den Erfahrungen der Autoren entspricht. Ein Abenteuerroman ist niemals primär nur die Geschichte von diesem oder jenem Abenteuer. Sonst wäre es nicht mehr als ein sachgemäßer Reisebericht. Ein Abenteuerroman ist die Geschichte davon, wie Protagonisten Pläne und Kontrolle hinter sich lassen und in Angesicht des Ungewissen mehr aus sich herausholen als sie unter normalen Umständen für möglich gehalten hätten. (Oder welche Metapher euch nun für Abenteuerromane oder irgendwelche anderen Romane mehr anspricht.) Man muss in diesem Sinne keinen Dschungel durchforstet haben, um einen Abenteuerroman darüber zu schreiben, wie jemand einen Dschungel durchforstet. Das Konzept versteht sich durchaus von allein, wenn man ein paar zu viele Naturdokus geschaut hat. Nein, man müsste vielmehr verstehen, was es heißt verloren und verwundbar zu sein und dass das Leben manchmal genau das benötigt. (Oder was auch immer die Botschaft unseres hypothetischen Abenteuerromans auch sein soll, what do I know, ich schreibe Contemporary Fantasy und bisher kam in meinem Buch noch kein einziger Marsch durch einen Dschungel vor.)

Kann ein Autor also über Dinge schreiben, die er nicht selbst erlebt hat? Ja, absolut. Muss er das sogar? Definitiv. Sonst wäre jedes einzelne Buch da draußen nicht mehr als eine sehr kleinliche Autobiographie. Aber man muss, wenn ihr mich fragt, wirklich unterscheiden, ob jemand nun über eine Situation schreibt, die er so erlebt hat oder nicht, oder über eine unterschwellige, viel größere Thematik. Letzteres empfinde ich als sehr schwierig, aber in den meisten Fällen muss man auch gar nicht über unterschwellige Themen schreiben, mit denen man selbst nie zutun hatte, weil man mit den meisten unterschwelligen Konflikten, die das Leben so auf einen werfen kann, früher oder später auf die ein oder andere Weise Wege kreuzt.

So sehe ich die Sache jedenfalls. Und ihr? Lasst es mich wie jede Woche wieder in den Kommentaren und euren eigenen Beiträgen wissen. Ich freue mich sehr darauf zu hören, wie ihr diese Frage beantwortet und wünsche euch an dieser Stelle (wie immer) einen guten Start in die erste volle Februarwoche 2020!

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