Writer’s Life: Ode der Anfänge

Es gibt eine schier endlose Anzahl an Möglichkeiten, eine Geschichte zu beginnen. ’Es war einmal…’, ’Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass…’, ’Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nr. 4…’, ’Alle Kinder, bis auf einen, werden erwachsen.’ Viele. Tausend. Tausende und abertausende mögliche Anfänge. Für gewöhnlich ist es das, was die Lektoren und später die Leser als erstes zu Gesicht bekommen — und für gewöhnlich ist es auch das, was ihre Entscheidung des Mögens oder Nicht-Mögens eines Buches innerhalb der ersten paar Sekundenbruchteile manifestiert.

Ein guter Anfang ist sehr wichtig, was einer der Gründe dafür ist, warum mir gute Anfänge immer sehr schwer fallen. Mit nichts beim Schreiben hadere ich so verlässlich wie mit dem ersten Satz und dem Kapitel, das ihm folgt. Der Anfang ist der wichtigste Teil des Buches. Mit ihm steht und fällt alles. Ob das nun ein gutes Konzept ist oder nicht, ich mache die Regeln nicht. Es ist, was es ist.

Würde ich meine eigene Lebensgeschichte schreiben müssen, sie könnte beispielsweise so beginnen: ’An einem lauschigen Dienstagnachmittag im Mai des Jahres 1998 trat ein neues Leben in die tiefthüringische Provinz — und dieses Leben schlief nicht.’ Ich bin mir nicht sicher, ob es ein guter Anfang ist (wie bereits erwähnt, Anfänge sind wirklich nicht meine Stärke). Aber in jedem Fall ist es nun einmal der Anfang, den ich bekommen habe. Ich bin tatsächlich an einem Dienstagnachmittag in einem Thüringer Provinzkrankenhaus geboren und habe daraufhin drei Jahre entschieden, kein Auge zuzumachen. Verlorene Schlafenszeit, die ich übrigens nun mit Mitte zwanzig durch konsequenten Mittagsschlaf wieder reinzuholen versuche.

Mein eigener Anfang ist heute etwas mehr als 24 Jahre her — und Anfänge sind nicht im geringsten leichter geworden. Weder im Leben noch beim Schreiben. Anfänge sind schwierig. Erstens, weil sie die erste große Richtung angeben — von ganzen Büchern oder einzelnen Kapiteln, Lebenswegen oder Lebensirrwegen, von dir, mir, jedem und allem.

Und zweitens, weil, wenn man sie dann doch mal gemeistert hat, der ganze Rest eben noch lange nicht gegessen ist. Mit Anfängen kann man nur bestehen, aber nie wirklich gewinnen. Sie sagen viel aus, was die Richtung angeht, aber wenn sie erst einmal vorübergezogen sind, steht man da mit seiner Richtung und der Anfang hat sich bereits über sieben Berge davongemacht und keiner klopft dir mehr auf die Schulter für deinen super Einstieg. (Im Übrigen wird einem generell eher selten auf die Schulter geklopft, nicht nur bei Anfängen. Das Leben ist ein hartes Pflaster.)

Paradoxerweise denke ich momentan überproportional viel über Anfänge nach, gerade weil das Buch, an dem ich geraumer Zeit geschrieben habe, fast beendet ist (über Enden habe ich bereits ausführlich geschrieben, wer sich dafür interessiert, der sei auf diesen Blogpost vom April verwiesen). Wenn man ein großes Schreib-Projekt beendet, ist die nächste Station für gewöhnlich die Überarbeitung. Und die, wie so viele Dinge, beginnt – tja, mit dem Anfang. Wo auch sonst? Während ich also die letzten Kapitel tippe, denke ich nun bereits wieder an die ersten. Natürlich primär, weil sie sich verändern müssen, um ins Gesamtbild einer Geschichte zu passen, die sich im Laufe der Zeit verändert hat. Aber eben auch, weil so viel Gewicht auf ihnen lastet. So viel Druck.

Wenn ich an meine ersten Kapitel denke, dann komme ich nicht umher mir die (Test-)Leser und Redakteure und Literaturagenten vorzustellen, mit deren Meinung über diese ersten Kapitel alles steht oder fällt. Ist mein erster Satz gut genug? Ist mein erstes Kapitel interessant genug? Wie stelle ich meine Charaktere und diese Geschichte vor – und wie schaffe ich es, eine Verbindung zwischen meinem Leser und meinen Figuren herzustellen? Es ist ein bisschen, das ist vielleicht die beste Art es zu erklären, als würden die eigenen Kinder das erste Mal in eine neue Schulklasse gehen oder das erste Mal auf einen Kindergeburtstag, zum ersten Arbeitsplatz, Unicampus, Kennenlernen der Schwiegereltern. Ich weiß, dass die Figuren gut sind – ich weiß, dass sie gute Geschichten erzählen können. Aber schaffen sie es, mit dem ersten Eindruck von sich zu überzeugen? Neue Freunde zu finden? Gut anzukommen? Gehört zu werden?

Das ist natürlich die eine Sache mit Anfängen. Der Druck, die Aufmerksamkeit der Leser zu gewinnen – und im optimalsten Falle dann auch für die nächsten fünfhundert Seiten zu halten. Mindestens. Aber Anfänge haben auch eine ziemlich persönliche Note. Natürlich ist die Geschichte, die ich schreibe, dazu gemacht, irgendwann in die Öffentlichkeit entlassen zu werden. Aber es ist auch eine sehr komische Sache, so lang an einem Projekt zu arbeiten und irgendwann bei der nächsten Stufe anzukommen (jedenfalls für mich).

Man geht mit gewissen Erwartungen durchs Leben – und Anfänge, wann auch immer sie einem begegnen, sind meist Momente, in denen wir diese Erwartungen definieren. Oder während denen sie sich ändern. Zum Beispiel: Als ich vor fast fünf Jahren angefangen habe, als Journalistin zu arbeiten, war mein absoluter Traum, irgendwann in einer richtigen Redaktion zu sitzen statt nur vor meinem Laptop im Studentenzimmer. Das ist für mein 2022-Ich kein nachvollziehbares Ziel, keine nachvollziehbare Erwartung, mehr, weil es mittlerweile absolute Normalität ist. In der Oberstufe habe war mein Ziel, irgendwann eine eigene Kolumne zu haben – meine aktuelle schreibe ich seit 2017. Antonia in der 8. Klasse wollte immer im Ausland studieren – mittlerweile lebe ich schon ein viertel meines Lebens in den Niederlanden.

All diese Dinge sind irgendwann einmal einem Anfang entsprungen – und einem Moment, in dem ich eine gewisse Idee davon hatte, was aus diesem Anfang einmal werden würde. Nun bedeutet mir meine Arbeit natürlich sehr viel und mein Studium ebenfalls – und natürlich hatte ich zu Beginn von beidem ein gewissen Ziel, was mal aus ihnen werden sollte. Aber nichts – keine Arbeit, kein Wohnort, kein Studium – bedeutet mir auch nur ansatzweise so viel wie mein Buch. Und nun stehe ich an einem neuen Anfang mit diesem Projekt und natürlich habe ich auch hier gewisse Erwartungen und gewisse Ziele. In erster Linie natürlich veröffentlicht und gelesen zu werden. Nur dass mir diese Ziele wesentlich mehr bedeuten und ich mich wesentlich mehr über ihren Erfolg definiere als ich es jemals mit einer Kolumne oder einem Auslandsstudium gemacht hätte.

Ich sage nicht, dass das eine gute Sache ist. Es ist nur eine Sache. Und es ist, wie ich mich fühle: Mit dem Blick auf mein fast fertiges Manuskript und die ersten Kapitel, mit denen alles steht oder fällt. Ein bisschen nervös. Ehrlich gesagt, ein bisschen sehr nervös. Es sollte mir nicht so wichtig sein, ob es mit dem ersten Buch klappt oder nicht. Aber er wäre schön, wenn es klappen würde. Wenn ich hier in fünf Jahren sitzen würde und mir nicht mehr vorstellen könnte, dass meine Ziele jemals mit veröffentlicht und gelesen werden begonnen haben, einfach weil ich bereits veröffentlicht und gelesen wurde – und die Dinge schon längst die nächsten Stufe erreicht haben. Wäre das ein Traum? Natürlich. Bin ich und – noch viel wichtiger – ist das Buch bereit dafür? Das kann man nicht wissen, bevor man es versucht hat. In jedem Fall besteht immer die Möglichkeit, dass dies einer der Anfänge sein wird, der in einer Enttäuschung endet.

Es reicht nicht, einen guten Prolog und ein gutes erstes und zweites Kapitel zu schreiben. Manchmal reicht es nicht einmal, ein wirklich gutes Buch zu schreiben. Und es reicht ebenfalls nicht, fest an etwas zu glauben. All das ist notwendig, aber es ist nicht ausreichend. Desto komplizierter die Unternehmung an dessen Anfang man steht, desto mehr muss man immer auch eine gute Brise Glück damit haben. Ein Anfang kann scheitern. So sehr es mir das Herz brechen würde, dieser hier kann wirklich scheitern – und wenn ich ganz ehrlich bin, macht mir das manchmal Angst. Aber weil mir dieses Buch so viel bedeutet – vom ersten Buchstaben bis zum letzten Punkt – kann es eben auch sehr gut werden, all das, was vor mir liegt. Die besten Dinge gehen zu gewissem Grad an die Substanz. Die besten Anfänge sind die, denen man sich vollkommen öffnet – so sehr man damit auch auf die Nase fallen kann.

Was dieser Anfang in Zukunft bringen wird, ist schwer zu sagen. Alles was man an dieser Stelle wahrscheinlich tun kann, ist, tief durchzuatmen, das erste Kapitel zu öffnen, zu lesen, kritisch zu sein, aber auch nicht zu kritisch zu sein, verbessern, verbessern, verbessern – und bloß nicht alles zu Stücken verbessern – und letztendlich hoffen, dass dieser Anfang genug sein wird. Und vielleicht sogar ein bisschen mehr als das. Es bleibt nicht mehr zu tun als tief durchzuatmen, zu denken, dass es bereits so viele Anfänge gab, an Dienstagnachmittagen und in ersten Redaktionsbesuchen und Fahrten über die Grenze. Es gab sie immer, die Anfänge, und es wird sie immer geben. Unabhängig ob dieser hier nun ein großer, bedeutender oder enttäuschender sein wird. Irgendetwas wird er sein, denn, das ist auch eine Eigenschaft von Anfängen, es liegt in ihrer Natur, dass danach grundsätzlich ein nächster Schritt kommen muss.