Niederländisch für Anfänger #9 – Sechs Jahre

Vor einigen Wochen saß ich das erste Mal seit fast einem Jahr im Stuhl eines Frisörs. Meine Haare hatten ungefähr vor drei Monaten bereits den Punkt erreicht, an dem ich dringend einen neuen Haarschnitt gebraucht hätte und jetzt – Klausuren vorbei, zweites Studienjahr fertig – hatte ich auch endlich wieder die Zeit, mir dafür Zeit zu nehmen nicht mehr auszusehen als hätte ich meine Haare aus Versehen an einer Duftkerze angesengt. Ich bin ehrlich gesagt nicht sonderlich gut darin, zu schätzen wie viele Zentimeter nun wirklich draufgegangen sind, aber der Gesundheitshaarschnitt war umfangreich genug, dass ich jetzt eine komplett neue Frisur besitze. Aber das ist okay so, es war Zeit für eine Veränderung.

„Wie lang lebst du jetzt schon hier?“, fragte mich die Frisörin beim obligatorischen Frisör-Smalltalk. „Sechs Jahre“, sagte ich – was eine viel genauere Antwort war, als es auf den ersten Blick scheint. Nein, ich lebte nicht schon fast sechs Jahre, nein, auch nicht sechs-Jahre-und-ein-paar-Zerquetschte in den Niederlanden. Ich saß auf diesem Stuhl, Kopf ein bisschen nach vorn gelehnt, damit der Frisörin keine etwas längeren Strähnen durch die Lappen gingen, und ich dachte, verdammt, heute ist der 27. Juni. Ich wohne seit genau sechs Jahren in dieser mittelgroßen Stadt kurz hinter der Grenze.

Irgendwann im März 2016 bin ich mit meiner Mutter zum Tag der offenen Tür in die Niederlande gefahren, fest davon überzeugt, dass Psychologie mein Ding werden würde, dachte noch, wie hübsch die Ampeln hier aussehen (das ist kein Euphemismus, die Ampeln und Verkehrsschilder in den Niederlanden sind viel runder als die deutschen, ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben kann) und nun sitze ich in einem fremden Frisörladen und habe eine Eingebung, dass ich gerade ein Viertel meines Lebens in dieser Stadt verbracht habe.

Es gibt wirklich schlechtere Orte als Nijmegen, in denen man ein Viertel seines Lebens verbringen kann. Ich würde mich nie beschweren. Psychologie war eine offensichtliche Fehlentscheidung meines naiven siebzehn-jährigen Ichs, aber für die Stadt habe ich tatsächlich ein Händchen gehabt. Nijmegen, diese kleine Stadt, von der ich prä-2015 noch nie etwas gehört hatte, ist mein Zuhause geworden. Der Ort, an den ich zurückkehren will, wenn ich lange weg war. Meine Comfortzone, wenn man so will, fast 500 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem ich die ersten achtzehn Jahre meines Lebens verbracht habe. Ob ich für immer dort bleiben werde? Wahrscheinlich, wie sich vor allem im letzten Jahr herauskristallisiert hat, nicht. Wird es ein schmerzhafter Abschied werden? Ja, definitiv. Aber manchmal ist auch ein schwerer Abschied nötig, manchmal ist Zeit, weiter zu ziehen.

„Man sollte die Gastfreundschaft nicht überbeanspruchen“, sagte gestern ein ehemaliger Kommilitone zu mir. „Irgendwann ist man einem Ort entwachsen und es ist Zeit für den nächsten.“ Wir waren gerade mit meinem Freund und einer weiteren Bekannten auf dem Weg zurück nach Bucharest, um dort in den folgenden Tagen unsere Flüge zurück nach Griechenland (ich) und in die Niederlande (er) zu nehmen, nachdem wir die Hochzeit einer weiteren Kommilitonin besucht hatten. Ich war noch nie in Rumänien. Und hätte mir jemand um die Schulabschlusszeit gesagt, dass ich eines Tages an einer Bushaltestelle nach einer mittelmäßigen Psychologie-Klausur im ersten Studienjahr eine Studienkollegin treffen würde und wir uns unterhalten und später für einen Kaffee verabreden würden, wenn mir jemand gesagt hätte, dieses eine Gespräch würde eine Freundschaft ins Rollen bringen, für die ich im Juli 2022 mit meinem Freund in ein Flugzeug steigen und nach Rumänien fliegen würde, damit ich auf der Hochzeit dieser Person Volkstänze mit ihrer Familie tanzen kann und mit gemeinsamen Freunden weinen, wenn sie und ihr Mann den ersten Tanz haben, es wäre eine verrückte Vorstellung gewesen.

Nicht, weil es unrealistisch ist, dass so etwas passiert, wenn man in ein fremdes Land zieht und dort andere Menschen trifft, die genauso jung und im selben fremden Land gelandet sind, sondern einfach weil die größten Zufälle ein ganzes Leben bestimmen. Manchmal trinken meine Freundin und ich einen Kaffee und sagen, in einem anderen Leben hätten wir beide in Heidelberg (unserer Zweitwahl) studiert und wären uns dort über den Weg gelaufen. Und mit großer Wahrscheinlichkeit hätten wir dort andere wichtigste Menschen in unserem Leben kennengelernt.

Nun bin ich nie in Heidelberg gelandet, sondern in Nijmegen. Habe ein Studium abgebrochen und ein neues begonnen, meine beste Freundin und meinen Freund dort kennengelernt, einen Job als Journalistin gefunden und mein Kopf ist unnormal gefüllt mit Informationen darüber, wo denn nun der beste Kaffee der Stadt zu finden ist (die Stadtbibliothek, überraschender Weise). Und nach sechs Jahren beginne ich, meiner Wahlheimat zu entwachsen. Das heißt nicht, dass ich sofort meine Koffer packen und gehen werde – ein oder zwei Jahre werde ich noch bleiben. Mindestens. Und wahrscheinlich jede Minute davon genießen. Es heißt aber auch, dass ich gehen werde. In absehbarer Zukunft, so sehr es auch weh tun wird. Die Gründe sind die üblichen Verdächtigen. Oder besser, eine übliche Verdächtige: Die Karriere. Von meinem Freund und mir. Es war eine Frage der Zeit. Aber jetzt, wenn die Zeit konkretere Zeiträume hat, fühlt es sich komisch an.

Das ist kein Abschiedsbrief, auch wenn es gerade ein bisschen danach klingt. Es ist mehr, wenn ich der Sache einen Namen geben müsste, die Realisation, dass ich ein Teil meiner Seele in dieser Stadt verankert habe und nun feststelle, dass ich mich irgendwann von ihr – und damit auch von einem Teil von mir – trennen werde. Oberflächlich betrachtet ist das ein sehr deprimierender Gedanke. Aber eigentlich ist es nur eine andere Art zu sagen, dass es weiter geht. Und das ist eigentlich überhaupt nicht deprimierend. Ganz im Gegenteil: Es ist ein Zeichen, dass man am Leben ist.

Versteht mich nicht falsch: Nur weil man sein ganzes Leben an einem Ort gelebt hat, heißt das nicht, dass man nicht am Leben ist. Das ist nicht, was ich damit meine. Ich bin umgezogen, weil ich wollte – und weil ich das Gefühl hatte, dass es Zeit dafür war. Fast alle meine Freunde sind recht nah geblieben und sind trotzdem auf ihre Art und Weise weitergezogen. Einige sind jetzt verlobt oder haben einen Job, ihre erste eigene Wohnung, ein neues Haus, neue Bekanntschaften, Studiengänge, Ausbildungen. Es gibt eine ganze Menge Wege weiterzuziehen, ohne physisch den Ort zu ändern. In meinem Fall ist es nur beides zusammen. Ich habe die Meilensteine meiner frühen Zwanziger an einem anderen Ort durchlaufen als die Meilensteine meiner Schulzeit. Und ich werde die Meilensteine meiner Post-Graduierten Jahre höchstwahrscheinlich an einem dritten Ort verlaufen, die Dreißiger an einem wieder anderen, die Vierziger vielleicht an einem fünften und ich hoffe, dass ich mit fünfzig dann aber wirklich irgendwo zur Ruhe gekommen bin. Aber wer weiß.

Man kann das Am-Leben-Sein nicht in Kilometern messen, die man von einem Ort zum nächsten gewechselt ist – das wäre auch eine recht elitäre und arrogante Auffassung davon, wie Leben funktioniert. Aber meine verschiedene Lebensabschnitte werden immer mit verschiedenen Orten und ja, vielleicht sogar Ländern, verbunden sein, was heißt, dass eine Wahrheit meines Lebens ist, dass ich nicht nur beruflich, entwicklungstechnisch, perspektivisch – wie man es nennen will – weiterziehen werde, sondern auch physisch. Es heißt, dass ich nicht nur Wohnungen, Häuser oder Arbeitsstellen verlassen werde, sondern ganze Orte, Freundes- und Bekanntenkreise und Comfortzonen.

Das ist vielleicht für den ein oder anderen kein großes Ding – die meisten meiner Unifreunde ziehen zwischen Ländern hin und her und ganz davon abgesehen, muss man nicht in einem anderen Land studieren oder eine Ausbildung machen, um nicht sein Leben lang jede einzelnen Person, mit der man zur Uni gegangen ist oder seine Ausbildung gemacht hat, im Dunstkreis von maximal fünfundzwanzig Kilometern zu haben. Aber dort, wo ich her komme, kommen viele, die weg gegangen sind, irgendwann wieder zurück. Ich denke nicht, dass ich jemals zurück kommen werde. Genau wie ich denke, dass ich nicht nach Nijmegen zurück komme, wenn ich irgendwann gehe. Es hatte seine Zeit, aber es ist fast vorbei. Es war ein Ort, den ich geliebt habe – immer noch liebe, wahrscheinlich immer lieben werde –, aber der für mich irgendwann eine Erinnerung wird oder eine Geschichte, die ich meinen Kindern erzähle, während sie ihre eigenen Heimaten bauen und ihre eigenen Lebensabschnitte an Orten verbringen, an deren Verlassen sie gar nicht denken, bevor sie es irgendwann tun.

Ist das generell eine schlechte Sache? Nein. Man ist, wo man ist – ob man dort geboren wurde oder hingezogen ist und ob man dort sein will oder nicht. Und wenn sich das Leben weiter dreht, passiert es manchmal, dass man an einen neuen Ort zieht. Und wenn man ich ist, dann zieht man eben von einem Land zum anderen und vielleicht wieder zurück und fragt sich, welche Sprache man jetzt eigentlich spricht, wenn jeder Satz eine eklektische Englisch-Deutsch-Niederländisch-Kombo ist, und ob man an verschiedenen Orten Zuhause sein kann – oder ob das heißt, dass man nie wirklich irgendwo Zuhause ist. Aber es ist keine schlechte Sache, es macht einen nur manchmal ein bisschen melancholisch, bevor man überhaupt weitergezogen ist, weil es schon sechs Jahre waren – the good, the bad and the ugly – und sechs Jahre, wenn man vierundzwanzig ist, ein Viertel der eigenen Existenz sind und ein Viertel der eigenen Existenz ist nicht wenig.

Ich weiß, dass ich sage, dass es generell keine schlechte Sache ist, aber es sich, wenn ich das so schreibe, zumindest wie eine recht traurige Sache anhört. Die Wahrheit ist, es macht mich ein bisschen traurig – nicht nur der Umzug an sich, sondern der alleinige Gedanke daran. Aber warum macht es mich traurig? Weil es eine furchtbare und furchtbar gute Zeit in einer wunderbaren Stadt war – und ist. Und weil einen fremden Ort so lieben zu lernen, dass er ein Zuhause wird, eine verrückte Sache ist. Im besten Sinne. Man kann nur etwas vermissen, das etwas bedeutet hat – und Nijmegen bedeutet mir sehr viel. Genauso wie Thüringen mir sehr viel bedeutet und all die anderen Orte, die eine Art Zuhause weg von Zuhause sind – sei es wegen den Menschen, die sie bewohnen, oder den Erinnerungen, die ich mit ihnen verknüpfe. Ist das der größte Hot-Take, der je meiner Feder (oder Tastatur) entsprungen ist? Nein. Aber es ist sehr wahrer Gedanke – und momentan auch ein sehr präsenter. Nachhause-Kommen und gleichzeitig zu wissen, dass jedes Zuhause (jedenfalls momentan noch) ein Ablaufdatum besitzt.