Die Montagsfrage #32 – Gibt es einen Autor, den du früher sehr bewundert hast, heute aber kritischer siehst?

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Die Examen sind überstanden und, meine Freunde, überlebt. Nun heißt es, sich langsam zurück in den Alltag tasten, Kraft schöpfen für die letzte Etappe des Studienjahres und nicht vom April-Wetter irritieren lassen. (Letzteres erwähne ich ausschließlich, weil es momentan so klischeehaft durch die Decke geht — gestern hatten wir doch tatsächlich Schnee und heute einen durchaus angenehm sonnigen Tag.)

Ich gebe zu, dieses Wochenende war ich eher so semi-produktiv, was allerdings nach der vergangenen Examens-Woche auch mehr als verdient war. Deshalb gibt es dieses Mal auch gar nicht so viel zu berichten, denn abgesehen von Harry Potter-Filmen schauen, viel Schlaf und einer Dokumentation über das Making-Of von Man on the Moon aus Jim Carrey’s Perspektive hat sich nicht so sonderlich viel weltbewegendes im Leis’schen Haushalt zugetragen. Deshalb, ohne sonderlich lang um den heißen Brei herumzureden, folgt nun die wöchentliche Montagsfrage:

Gibt es einen Autor, den du früher sehr bewundert hast, heute aber kritischer siehst?

Bevor ich diese Frage beantworten kann, muss ich erst einmal etwas anderes ansprechen: Die Art von Büchern, Filmen und Serien, die produziert werden, und wie das Publikum sie beurteilt, haben sich innerhalb meiner Lebenszeit (was nicht allzu viel ist, da ich erst 20 Jahre alt bin) drastisch verändert. Medien Ende der Neunziger oder zu Beginn der Zweitausender hatten ein, man kann es einfach mal so sagen, sehr begrenztes Spektrum an Vielfalt. Nicht, dass 2019 ein multikulturelles Meer der Vielfältigkeit ist, wenn man um vier am Nachmittag ProSieben einschaltet, aber Autoren wie Rick Riordan tun, nur um ein Beispiel zu nennen, sehr viel für Representation in Büchern und sind damit vor allem in meiner Generation durchaus erfolgreich. Und, noch wichtiger, Autoren, die Diversität so nicht unterstützen, werden heute mehr dafür kritisiert als noch vor zwanzig Jahren.

Und ich bin sicher, dass wir in zehn oder zwanzig Jahren bestimmte Dinge, die heute vollkommen okay sind, anders beurteilen werden. Das ist nun einmal der Lauf der Zeit. Die Werke vieler Menschen würden zwei, zwanzig oder zweihundert Jahre später anders oder überhaupt nicht mehr gemacht werden. Filme der achtziger und neunziger Jahre, die heute Kultstatus haben, haben aus Perspektive 2019 durchaus Luft nach oben. The Breakfast Club ist, kann man nicht leugnen, sexistisch, in The Rocky Horror Picture Show sind die Bösen die Transvestiten, und die komplette Serie Friends ist ausschließlich mit ultra-dünnen Schauspielerinnen besetzt. Das lässt sich alles kritisieren. Es macht ein Werk allerdings nicht schlecht. Ich mag The Breakfast Club, ich liebe The Rocky Horror Picture Show und ich kann ehrlich gesagt mit Friends nicht wirklich etwas anfangen, aber viele meiner Freunde sind große Fans. Nicht, weil Serien, Filme oder Bücher perfekt sind — sondern weil sie eine Etappe in der Kulturgeschichte darstellen, in deren Gegenwart wir uns momentan befinden.

Dinge sind nie perfekt — vor allem, weil man sich darüber, was Perfektion eigentlich ist, wirklich streiten kann. Wichtig ist allerdings nicht, dass Dinge perfekt sind oder dass sie ihrer Zeit immer hundert Jahre voraus sind. Es ist okay, dass manche Filme oder Bücher heute so nicht mehr gemacht oder geschrieben werden würden, weil bestimmte Dinge so nicht mehr von uns als Gesellschaft als okay hingenommen werden. Man kann sie deshalb immer noch ansehen. Nur muss ihren Kontext verstehen und feststellen, dass wir in zwanzig oder dreißig oder hundertfünfzig Jahren eine Entwicklung vollzogen haben, die uns zu reflektierten Menschen gemacht hat.

Ich schreibe diesen halben Roman über die Entwicklung von Kultur, weil ich eine Sache klar stellen möchte: Menschen sind nicht perfekt und das, was sie tun, eingeschlossen ihre Bilder, Filme, Serien oder Bücher, sind es auch nicht. Und das ist vollkommen okay. Kultur ist eine Entwicklung. Alles okay. Was nicht okay ist — und was mir absolut gegen den Strich geht, ist wenn Menschen sich nicht eingestehen können, dass sie heute bestimmte Dinge anders darstellen würden als noch vor zwanzig Jahren.

Und so kommen wir zu J.K. Rowling. Wie in der Einleitung bereits erwähnt, habe ich meinen gestrigen Tag mit Harry Potter-Filmen zugebracht. Und Gott weiß, ich bin ein großer Fan dieser Filme und dieser Bücher. Es gibt keine vergleichbare Franchise, die mich so geprägt hat und so unausweichlich mit meiner Kindheit verknotet ist. Ich liebe Harry Potter und ich werde J.K. Rowling für immer dankbar für ihre Arbeit sein. Was ich nicht mehr tue, ist sie für besser als viele andere Autoren zu halten. Sie ist keine meiner Lieblingsautorinnen mehr, obwohl sie das wirklich viele Jahre war, und der Grund ist folgender.

Harry Potter ist nun schon seit über zwanzig Jahren auf dem Markt und als die Buchreihe damals veröffentlicht wurde, waren Charaktere, die nicht heterosexuell und weiß sind, noch eine absolute Rarität. Das war ein Problem der Neunziger und das ist immer noch ein Problem. Aber wir sind uns über die Jahre diesem Problem mehr bewusst geworden und schreiben heute vielseitiger als in den Neunzigern. Es ist okay und ja, ich finde es sogar wünschenswert, Entscheidungen, die man damals für das Buch getroffen hat, als verbesserungsfähig einzugestehen. Das macht eine Geschichte nicht schlecht, sondern einen Künstler reflektiert über seine eigene Entwicklung. Alle sind heterosexuell und weiß? Alles klar, das ist vielleicht keine akkurate Darstellung unserer Gesellschaft und ich würde es heute ändern. Also machen wir es besser. Sein wir besser. Schreiben wir vielseitigere Geschichten für eine vielseitige Gesellschaft. Und ja, wenn Hermine schwarz ist und Harry indisch und Dumbledore homosexuell — umso besser. Ich bin voll und ganz dabei, wenn jemand sagt: Das sind die Charaktere und ich habe sie damals bezüglich ihrer ethnischen und sexuellen Identitäten geschrieben wie ich sie heute nicht mehr schreiben würde, aber ich öffne die Geschichte dafür, dass Hermine nicht nur weiß sein kann und Harry nicht nur weiß sein kann und Dumbledore nicht heterosexuell, weil das ist, was mich zwanzig Jahre gelehrt haben. Charaktere sind flexible Dinge und sie besitzen eine solch geschichtete Persönlichkeit, mit der sich viele Menschen identifizieren können, dass sie nicht an eine Hautfarbe oder an eine sexuelle Orientierung oder ein dies und ein das gebunden sein müssen.

Aber jetzt zu behaupten, dass es die ganze Zeit schon so war und dass man es die ganze Zeit schon so geplant hat, ist falsch. Und das ist, was J.K. Rowling macht und damit habe ich ein Problem. Denn das heißt, sich nicht eingestehen zu können, dass manche Dinge sich entwickeln und dass wir uns entwickeln. Es heißt, dass wir schon immer perfekt und unserer Zeit voraus waren und das ist einfach nicht so. Eine positive Entwicklung ist genau das — eine Entwicklung. Kein vorbestimmter Zustand, den ein weiser Künstler aus dem Boden stampft.

Charaktere werden nicht perfekt geschaffen, sondern sind ein Konstrukt, das man als Autor in gewisser Weise auch kennenlernen muss. Eigenes Beispiel: Mein Hauptcharakter war für lange, lange Zeit heterosexuell, sein Love-Interest also eine Frau. Und es hat sich immer irgendwie komisch und gezwungen zu schreiben angefühlt. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich eines Abends wie aus dem Nichts dachte, „Er ist schwul.“ und seine Sexualität daraufhin angepasst habe — und seitdem fühlt es sich nicht mehr gezwungen an. Er war schon immer schwul, ich war mir dessen aber nicht bewusst. Es wäre eine Lüge zu sagen, ich hätte von Anfang an alles an meiner Geschichte und ihren Charakteren klar vor meinem inneren Auge gesehen. Das wäre sogar sehr weit entfernt von der Wahrheit. Ich habe mehr Zeit mit meinen Charakteren und mit meiner Geschichte verbracht und sie besser kennengelernt und daraufhin manche Charaktereigenschaften, sexuelle Orientierungen, Probleme, Geschichten, Beziehungen zu anderen und Hintergründe verändert. Weil es natürlicher war und weil ich sie erst ausarbeiten musste. Weil meine eigene Weltsicht sich entwickelt hat und breiter geworden ist und meine Perspektive auf die Welt zwischen zwölf und zwanzig reflektierter geworden ist.

Wenn J.K. Rowling am Ende ihrer Buchreihe feststellt, dass Dumbledore schwul ist oder Hermine schwarz oder Harry indisch — Ja, von mir aus. Ich kenne das Gefühl. Ich gehe mit. Vielleicht waren sie das schon immer und du warst dir dessen nicht bewusst. Aber dann sei offen. Sag, es war nicht die Intention von Beginn. Weil es das, würde ich jetzt mal so behaupten, einfach nicht war. Hermine in den Filmen ist weiß. Harry in den Filmen ist weiß. Während den Büchern wurde Dumbledores homosexuelle Beziehung zu Grindelwald kein einziges Mal erwähnt. Den Büchern fehlt es massiv an Representation, haben sie auch sonst sehr viele positive Seiten, das ist nun mal eine negative. Aber wenn man sich so lange mit einer Geschichte beschäftigt, passiert es, dass man sie anders sieht und Charaktere verändert und ja, herrgott, sie dadurch natürlicher werden lässt. Es ist trotzdem eine Entwicklung und es war nicht von Beginn an so. (Genauer gesagt: Es war nicht nur nicht zu Beginn so, es war über die ganze Buchreihe hinweg nicht so.) Das zu behaupten ist ein Fehler. Fast so groß wie der letzte Fantastic Beasts-Teil, dieses absolute Desaster. Aber davon fange ich jetzt nicht an, das macht mein armes Herz nicht mit.

Liebe ich Harry Potter immer noch? Absolut. Habe ich immer noch Respekt vor J.K. Rowling? Definitiv. Aber ich bin heute der Meinung, dass sie nicht perfekt ist. Die Entwicklungsgeschichte einer Geschichte in Retrospektive so hinzubiegen, dass sie zum aktuellen Mindset der Welt passt, stört mich. Nicht, weil ich ein Problem mit dem Fortschritt habe — sondern weil wir dort nicht einfach gelandet sind, sondern erst hinkommen mussten. Und Harry Potter hat einen Teil darin gespielt. Weil die Reihe weitergedacht hat und weil sie ausbaufähig ist — wie alles ausbaufähig ist. Jedes großartige Stück Kunst ist ein Teil der Entwicklung, gerade weil es nicht perfekt ist und wir die Luft nach oben ausfüllen können. Und es ist falsch, der Buchreihe diesen Teil der Entwicklung abzusprechen, ihre Fehler nicht eingestehen zu können und sie stattdessen weiter vorn am Zahn der Zeit zu platzieren. Da gehört sie nicht hin, das ist unehrlich und außerdem, Fantastic Beasts 2, ich sag nichts weiter. Keine Worte.

Bevor ich jetzt noch mehr mit dem heutigen Montagsfrage-Beitrag eskaliere und vielleicht doch noch anfange über Fantastic Beasts 2 zu sprechen, gebe ich sie jetzt allerdings an euch weiter. Das ist gesünder für alle Beteiligten.

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